Roman Kabelik

Entgrenzte Subjekte: Beweglichkeiten und Lokalisierungen in der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts
Institut für Germanistik, Universität Wien
BetreuerInnen: ao. Univ.-Prof. Dr. Franz Eybl, Univ.-Prof. Dr. Annegret Pelz

Im Mittelpunkt des Teilprojekts steht deutschsprachige Erzählliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts und deren Artikulationen kultureller Mobilität mit besonderer Berücksichtigung der bürgerlichen Subjektkultur. In diesem Zeitraum verschiebt sich die hegemoniale Bedeutungsmacht von feudal geprägten Höfen hin zu bürgerlichen Gesellschaftsschichten und deren Institutionen und Berufsfeldern. Auch die Gattungsentwicklung des Romans und der Erzählung sind im Kontext bürgerlicher Schreib- und Rezeptionsweisen zu sehen.

Erzählende Literatur als repräsentatives und reflexives Archiv bürgerlicher Wissensordnung gestaltet auf Handlungs- und Darstellungsebene bewegliche Perspektiven, ein (mehr oder weniger) mobiles Figurenarsenal mit unterschiedlichen Vehikeln und Raum-Zeit-Entwürfe, in denen Mobilität beschränkt bzw. erweitert und verlangsamt bzw. beschleunigt wird. D.h. sie artikuliert textuell (un-)bürgerliche Subjektivität mit Mobilitätsformen und erzeugt damit in Differenzsystemen verortete, aber zugleich kontingente Subjektpositionen (wie z.B. urbane Industrielle, transnationale Künstler, häuslich gebundene Mütter und Adelsfrauen zu Pferd).

Das Korpus geht exemplarisch vor und umfasst Romane und Erzählungen von Wieland, Goethe, Tieck, Stifter, Raabe und Fontane. Vier methodische Zugänge stehen dabei im Vordergrund:

a.) ein diskursanalytischer Ansatz zeichnet historische Kontexte nach, in denen literarische Texte Aussagen über Menschenverkehr, Warentransport und zunehmende Globalisierung (z.B. in Form des Tourismus und Kolonialismus) bei gleichzeitiger Ausbildung von Häuslichkeit als Bestandteil bürgerlicher Subjektkultur aufnehmen, bestätigen oder hinterfragen; ein weiteres Differenzierungsinstrument stellen soziale Kategorien dar (wie Klasse, Geschlecht, Ethnie, Alter und Religion), die Aussagepositionen entsprechend markieren und relativieren;

b.) mittels narratologischer Begriffe wird die Formgestaltung der Texte hinsichtlich perspektivischer Beweglichkeit sowie des Darstellungsrhythmus befragt; damit soll Aufschluss über Distanzen in der Subjekt-Objekt-Relation mittels Fokalisierung (d.h. aus welchen Blickwinkeln werden auf mobile Weise (Um-)Welten beschrieben) und über Tempi und Frequenzen der erzählten Bewegungsmuster gewonnen werden;

c.) geopoetische, zeittheoretische und phänomenologische Modelle skizzieren ästhetische Chronotopoi und deren Relevanz für erzählte Welten und deren Figuren; besonders relevant sind hierfür die geschichtlich wandelbaren Konstruktionen von Heimat (und des Fremden als ihr konstitutives Außen) im Hinblick auf National- bzw. Kulturgrenzen – kulturelle Mobilität als konstitutiver Bestandteil und Irritationsmoment im literarischen Entwurf geopolitischer und historiographischer Ordnungen;

d.) über Konzepte der kognitiven Literaturwissenschaft wird der körperlichen Erfahrung des Lesens Rechnung getragen, indem aus dem semantischen Feld der Bewegung relevante Image-Schemata und Metaphern, die v.a. im Bereich des sozialen Wandels und der technologischen Entwicklung Verwendung finden, herausgearbeitet und in den Kontext der Beschleunigungs- und Modernisierungsprozesse des behandelten Zeitraums gestellt werden.

Innerhalb des übergreifenden Forschungsvorhabens fungiert dieses Projekt als historische und literaturwissenschaftliche Komponente, indem es die Lektüre erzählender Literatur und deren Mediatisierungen von Mobilität als subjektformative Praxis innerhalb eines bestimmten medientechnologischen Dispositivs verortet. Das zu erarbeitende Konzept der ‚Mobilisierung‘ wird dabei um die Formen erweitert, mit denen bürgerliche Subjektivitäten über Kategorien der Mobilität (Reichweite, Geschwindigkeit, Territorialisierung etc.) literarisch-diskursiv hergestellt und in historischen Kontexten neu konfiguriert werden.